Bericht eines Besuchers

2. Schleisymposium in Schleswig "Multifamilienarbeit in Schulen"
Systemisches Denken in Schulen, neue Entwicklungen im hohen Norden

Heinz Graumann, Schleswig

Das 1. Schleisymposium vor drei Jahren im Norden von Schleswig-Holstein bedeutete für viele einen Einstieg in die Multifamilienarbeit. Am 5. und 6. November 2011 lud das Schlei-Klinikum Schleswig nun zur Fortsetzung mit dem Schwerpunkt Multifamilienarbeit an Schulen ein. Das Kooperationsprojekt der Tagesklinik „Baumhaus“ und der Schule der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig "Familien in Schule", das in diesem Jahr sein 5-jähriges Bestehen feiert, wird im Land zwischen den Meeren kurz FiSch genannt.

Die Organisatoren hatten ein interessantes Tagungsprogramm mit fachkundigen Referentinnen und Referenten aus Großbritannien, Dänemark und Deutschland zusammengestellt, die in Vorträgen und Workshops neue Ideen und langjährige Erfahrungen zur Diskussion stellen sollten.

Über das große Interesse waren die Veranstalter Dr. Martin Jung, Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch erfreut und überrascht: 120 Teilnehmer reisten aus verschiedenen Teilen Deutschlands, der Schweiz, Dänemark und England an. Die Veranstaltung war damit ausgebucht.

An diesem etwas trüben Freitagnachmittag hatten die Kolleginnen und Kollegen aus Schleswig zu Beginn der Veranstaltung eine der vielen kreativen Methoden, derer sich die Multifamilienarbeit bedient, ausgewählt, um das Plenum auf die Tagung einzustimmen. Nach kurzer Probe erklang im Veranstaltungssaal ein vierstimmiger rhythmischer Sprechgesang mit den Worten: FAMILIE - IN - SCHULE. Eine Kostprobe aus der Praxis der Multifamilienarbeit: etwas gemeinsam tun, Gemeinschaftserlebnisse vermitteln.

Danach ging es zur Sache: Ulrike Behme-Matthiessen, Kerstin Bock, Andree Nykamp und Thomas Pletsch aus Schleswig stellten die Grundlagen, die Anfänge und die Praxis ihrer nunmehr 5-jährigen Multifamilienarbeit vor.
Inspiriert vom "Family Education Program" des Marlbourough Family Service aus London und dem Modell des Familienzentrums Lovdal aus Helsingör in Dänemark begannen die Schleswiger 2006 ihr eigenes norddeutsches Konzept für die Hilfe von sog. "nicht-beschulbaren" Kindern zu entwickeln.

Ulrike Behme-Matthiessen erinnerte in ihrem Vortrag an die Quellen, aus der sich die Arbeit speist: Systemisch-therapeutische Ansätze, Gruppentherapie und die Idee der Selbsthilfe.
Schulerfolg basiere auf verschiedenen Faktoren, so Ulrike Behme-Matthiessen: Zentral sei dabei die gute Kooperation zwischen Schule und Elternhaus. Ermöglicht werde sie durch gegenseitige Wertschätzung der Lehrkräfte, Eltern und Kindern. Hier setze FiSch an. FiSch schaffe einen Kontext, der eine tragfähige Kooperation ermöglicht. Eine positive Grundhaltung der Lehrkräfte und Therapeuten gegenüber den Eltern die Voraussetzung.

Kerstin Bock, Thomas Pletsch und Andree Nykamp erläuterten die praktische Seite des Projekts. In der Praxis heißt das: Einmal in der Woche ist FiSch-Tag. Dann kommen Eltern und Kinder aus ihren Heimatorten nach Schleswig. Der Ablauf eines FiSch-Tages wird exemplarisch vorgestellt:
Austausch zwischen den Eltern, die Wochenbilanz, dann der Unterricht, bei dem die Eltern anwesend sind und das Eltern-Coaching. Danach werden die Ziele der Kinder betrachtet und was ganz wichtig ist, reichlich Lob und Applaus von allen, wenn sie ihre Ziele erreicht haben. Elterncoaching hat das Ziel, die Selbstverantwortung und elterliche Kompetenz zu stärken.

Den Abschluss des ersten Kongresstages machten Brenda McHugh und Neil Dawson, die zusammen mit Eia Asen den Multifamilentherapie-Ansatz an der Marlborough Family Center in London entwickelt und ihn dann auf die Arbeit mit Kindern, Eltern und Lehrkräften in der Schule übertragen haben. Mit ihren inzwischen über 28 Jahren Erfahrung beeinflussten sie nicht nur die Entwicklung des FiSch-Projektes, sondern haben auch die Entstehung von Multifamilienarbeit an Schulen in Dänemark, Norwegen und Schweden angeregt und unterstützt.
Ein Element dieser Multifamilienarbeit ist die Verbesserung der Fähigkeit zur „Mentalisierung“. Damit meinen sie das sich „Hineinversetzen können“ in das Fühlen und Denken Anderer und beschrieben sie als wesentliche Fähigkeit, um eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Schule zu erreichen.
Brenda McHugh und Neil Dawson zeigten anschaulich, wie dies in der Praxis in durch lebendige, gemeinsame Aktionen erreicht wird. Die Multifamilientherapie hat ein reiches Repertoire an spielerischen Methoden angesammelt, um die gegenseitige Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern. In Videobeispielen aus ihrer Arbeit in London stellten Brenda McHugh und Neil Dawson kreative Aktivitäten wie die Erstellung eines "Familien-Portraits" (Malen eines Bildes unter Beteiligung der ganzen Familie), "Action Mind Body" ("Rücken streicheln") vor. Dabei durfte das "Speed-dating" nicht fehlen, eine ungeheuer dynamische Form der Kommunikation in der Gruppe, inzwischen Standard in der Multifamilienarbeit.

Der erste Tag des Symposiums endete für Viele bei jazziger Live-Musik mit angeregten Gesprächen.

Am Morgen des zweiten Veranstaltungstages trug das Team aus Helsingör in Dänemark, Tryggvi Kaldan, Kirsten S. Hviid und Claus Bonde Andersen, die dort seit vielen Jahren praktizierte Multifamilienarbeit vor. In ihrem Vortrag ging es auch um interessante Weiterentwicklungen.
So haben sie seit kurzer Zeit ihr Angebot auf Familien mit Kindern aus Kindergärten und Vorschulen ausgedehnt.
Seit einiger Zeit befasst sich das Team aus Dänemark auch wieder mit den Grundlagen des Lernens und stellten in ihrem Vortrag insbesondere die Theorie von Wygotski über die "Zone of proximal Development" heraus, bei der es um Lernfortschritte geht, die Kinder nicht allein, sondern gerade durch die Unterstützung anderer Kinder oder Erwachsener machen. Ein Konzept, dass durch die Betonung der sozialen Seite des Lernens, besonders gut zur Idee der Multifamilienarbeit zu passen scheint, so die Kolleginnen und Kollegen aus Helsingör.
Basierend auf den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre ging das dänische Team auf die Bedeutung einer klaren Rollentrennung zwischen Lehrern und Eltern für eine erfolgreiche Kooperation in der Schule ein:
Lehrer sollten sich nicht in die Erziehungsarbeit der Eltern einmischen, so die dänischen Referenten. Sie können zwar Wissen, Arbeitstechniken und soziale Kompetenzen vermitteln. Für die Erziehung der Kinder sind aber allein die Eltern verantwortlich. Nur sie können ihre Kinder durch elterliche Zuwendung und Liebe unterstützen und stärken.
Eltern hingegen sollten sich nicht in die pädagogische Arbeit der Lehrer einmischen. Sie sollten die Kompetenzen und den Arbeitsbereich der Lehrer respektieren und sie als die Experten für die Arbeit mit den Kindern in der Schule anerkennen.

Was sich in den letzten Jahren im nördlichen Schleswig Holstein, insbesondere im Kreis Schleswig-Flensburg, in punkto Multifamilienarbeit in der Schule getan hat, ist erstaunlich. Auf Initiative des Schulpsychologen des Kreises, Roland Storjohann und des Kreisfachberaters für schulische Erziehungshilfe, Horst Rieger sowie der Sonderschullehrerin Heike Petersen (inzwischen Koordinatorin für die FiSch-Klassen des Kreises) gibt es inzwischen an 7 Standorten im Kreis "FiSch – Familie in Schule". Diese wurden mit dem Beginn des Schuljahres 2011/12 um zwei weitere Standorte ergänzt.
Heike Petersen, Horst Rieger und Roland Storjohann stellten die Arbeit im Kreis Schleswig-Flensburg vor:
Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler von Grundschulen mit Verhaltensproblemen sowie ihre Eltern und Lehrkräfte. Es handelt sich um eine präventive Maßnahme. Die Kinder können deshalb direkt ohne eine vorherige Diagnosestellung an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des FiSch-Standortes vor Ort gemeldet werden.

In seinem Vortrag schilderte Horst Rieger eindrucksvoll die Ausgangslage an den Schulen des Kreises. So wurde bei einer Befragung von Grundschullehrern festgestellt, dass bereits eine große Anzahl von Grundschülern in Schule und Unterricht schwere Verhaltensprobleme, Motivationsverlust und Leistungsversagen zeigen. Das soll sich durch die Arbeit der FiSch-Teams im Kreis nun ändern.

Roland Storjohann, Schulpsychologe des Kreises Schleswig Flensburg, wies in seinem Vortrag auf die psychologischen Ursachen der alarmierenden Situation hin. Er betonte dabei die Bedeutung einer positiven Grundhaltung gegenüber den Kindern. Kritik und Bestrafung ändere das Verhalten der Kinder nicht. Notwendig sei vor allem Lob und positive Rückmeldung für das, was den Kindern gut gelingt.

Heike Petersen blickte in ihrem Vortrag auf den Aufbau des FiSch-Projekts zurück: Schule und Lehrer mussten über das Projekt informiert und von seiner Effektivität überzeugt werden, Fortbildungen in Coaching und in systemischer Beratung mussten für die Sonderpädagogen und Lehrer durchgeführt werden, die im Projekt tätig werden sollten. Es musste für Supervision, Hospitationsmöglichkeiten und Vernetzung der Teams im Kreis gesorgt werden. Dies gelang mit der Unterstützung des an der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätigen FiSch-Teams und dem Schulpsychologischen Dienst des Kreises.

Dies dürfte ein ermutigendes Beispiel sein, das Orientierung für andere bietet, die einen Anfang in der Multifamilienarbeit in der Schule machen wollen.

Am Ende der Vortragsreihe des Vormittags des zweiten Tages referierte Dr. Julia Bischoff vom Institut für Heilpädagogik der Universität Flensburg über ihr Evaluationsvorhaben zum FiSch-Projekt.
Schwerpunkt ihrer Evaluation sind die Erfahrungen der Beteiligten des "FiSch-Projekts", d.h. die der Eltern, Kinder und Lehrkräfte und ihre Beurteilung.
Obwohl sich Julia Bischoff zu diesem frühen Zeitpunkt der Projektarbeit lediglich auf eine relative geringe Fallzahl stützen kann, sind die Ergebnisse beeindruckend und können in die weitere FiSch-Arbeit gewinnbringend einfließen.

Der erste Aspekt ihrer Evaluation bezieht sich auf die Ziele, die die Kinder während der 12-wöchigen Teilnahme am Projekt zu erfüllen hatten. Erstaunlich war, dass der Grad des Erreichens der formulierten Verhaltensziele von Anfang an auf einem sehr hohen Niveau war und sich während des Projekts auch nicht wesentlich veränderte.

In dem zweiten Aspekt bezog sich Julia Bischoff auf den Nutzen des Projekts für die teilnehmenden Eltern, Kinder und Lehrkräfte.
Für die Eltern war der Austausch mit anderen Eltern, das Gefühl nicht allein mit dem Problem da zu stehen und Unterstützung von anderen Eltern zu bekommen, hilfreich. Eltern und Lehrkräfte sprachen von einer besseren Kooperation zwischen Elternhaus und Schule.

Aber auch auf Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung des Projekts auftraten, ging Julia Bischoff ein. So scheint die Einbeziehung der Lehrkräfte der Heimat-Grundschulen in die FiSch- Arbeit noch verbessert werden zu können, denn was in der FiSch-Klasse funktionierte, klappt nicht immer in der Schule am Wohnort der Kinder.
Auch die Beteiligung der Kinder bei der Formulierung der Verhaltensziele könne noch verstärkt werden, so die Empfehlung von Julia Bischoff.

Die Workshops am Nachmittag vertieften und ergänzten noch einmal die vorangegangenen Vorträge unter anderem mit praktischen Übungen, Videobeispielen und Diskussionen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig: Es war wieder eine gelungene Veranstaltung, die einen breiten Überblick über die verschiedenen Ansätze der Multifamilienarbeit in der Schule geboten und das Potential dieser Idee aufgezeigt hat. Man kann vermuten, dass die dynamische Entwicklung der letzten Jahre weiter gehen wird.
Und man darf gespannt sein auf das nächste Schleisymposium in Schleswig!

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